Die Bereiche der Wahrnehmung

Jürgen Reble, November 1997

In den letzten Jahren habe ich vorwiegend mit Gelatine-Reliefbildern gearbeitet. Dabei habe ich Motive aus der bewegten Natur verwendet, zum Beispiel Wasseroberflächen, Wolken, Tiergestalten in Bewegungsverläufen, makro- und mikrokosmische Vorgänge etc. Diese liegen im Material als Linienreproduktionen vor. Dann bediene ich mich der Salze, die normalerweise nach den Bädern aus dem Film herausgewaschen werden und bedecke die Bilder Schicht für Schicht mit den getrockneten, teilweise kristallinen Substanzen. Hinzu kommen gekratzte grafische Zeichen und Muster. Das Bild als Abbildung der Natur rückt mehr und mehr in einen durchschimmernden Hintergrund. Bildgebend wird zunehmend das Rohmaterial, Salze und Farbstoffe, die einen Einblick in die chemisch/ physikalische Beschaffenheit von Film geben. Durch die Vielzahl übereinandergeschichteter Materieebenen entsteht räumliche Tiefe.
Der Film liegt vor mir auf dem Leuchttisch, etwa 6 Streifen à 2 meter liegen als Fläche ausgebreitet, was bedeutet das mir für eine Session eine Fläche von etwa 0,1 x 2 meter zur Verfügung steht. Dabei interessiert mich weniger das einzelne Bild als die übergeordnete grafische Gestalt der gesamten Sequenz. Schließlich füge ich die einzelnen Stücke zusammen und betrachte sie als eine fließende Bewegung.

Man kann eine Beziehung herstellen zu den Arbeiten von Oskar Fischinger, Len Lye, Stan Brakhage, James Whitney..., um nur einige der Künstler zu nennen, die versuchten, eine Art von visueller Musik zu erschaffen welche schließlich aber Film und nicht Musik ist. Jede Beziehung zwischen Musik und Film ist subjektiv und kann störend wirken. Stan Brakhage hat die Verwendung von Musik in seinen Filmen vermieden. Das ist ein sehr puristischer Standpunkt der absolut ehrlich ist. Bei der Vorführung stummer Filme in der Öffentlichkeit entsteht in jedem Fall eine Symphonie von: den Vibrationen des Projektors, dem Rattern der Ventilatoren, thermischen Gesängen von startenden Düsenflugzeugen, dem Husten einiger Zuschauer, dem Geschwätz der sich langweilenden Sitznachbarn, ... Ich fühlte mich bei solchen Vorführungen meistens gestört durch die Rohheit dieser Klänge, besonders bei meditativen Stücken.

Die interessantesten Bereiche der Wahrnehmung liegen in den Grenzbereichen von Dunkelheit und Stille. Nahe der Dunkelheit beginnt das visuelle Zentrum ein Eigenleben und erzeugt Bilder zwischen Innen- und Außenwelt. Dasselbe Gefühl habe ich, wenn ich die Musik von Thomas Köner höre. Wir arbeiten beide mit verstärkten Projektionen von nahezu unsichtbaren und unhörbaren Strukturen und Klängen und deren Phänomenen. Das erzeugt eine Atmosphäre die dem Traum sehr nahe liegt.
Ich kann im Film keine Sensation erleben, außer der seiner eigenen Qualitäten. Meine Arbeit versteht sich als eine Art von Grundlagenforschung. Wenn das Material beginnt mit mir zu sprechen werde ich zunächst aktiv als Beobachter. Dann kann ich in sein Eigenleben hineinschauen und finde Spuren, die zu einer Aussage über ihren Zustand und Befindlichkeiten führen. Das ist eine schamanistische Vorgehensweise.Ich habe nichts auszudrücken außer meiner Begeisterung über die verborgene Schönheit und Zerbrechlichkeit von Film.

In den vergangenen Jahren habe ich zusammen mit Thomas das Stück Alchemie etwa zwanzig mal aufgeführt. Die Beziehung zwischen Musik und Film war definiert durch die gleichzeitige Erzeugung im Filmprojektor. Thomas benutzte den Klang des Projektors und die Geräusche, die beim hantieren mit den Chemikalien entstanden. Mit Hilfe elektronischer Instrumente transformierte er dieses Tonmaterial live zu einer musikalischen Komposition, die der Dramaturgie der Geburt und dem Tod der Bilder entsprach. In unserer gegenwärtigen Performance Tabula Smaragdina ist die Beziehung zwischen Film und Musik weniger grundlegend. Zwar enthält die Musik Signale, die aus der Filmebene generiert werden: Das optische Tonsystem des Projektors tastet die bröckeligen Strukturen der Bildkrusten ab, die über den ganzen Bildträger hinweg aufgehäuft liegen. Auch hört man immer wieder die rhythmischen Signale, die der Filmgreifer im Transportkanal des Projektors erzeugt. Die in Echtzeit entstehende Komposition von Musik und Film ist ein Parallelprozess. Während der letzten Performance hatte ich das Gefühl, mit dem projezierten Film in der vertikalen Achse des Raumes angeordnet zu sein, während die musikalische Entfaltung der horizontalen Ebene entsprach. Ich konnte mich dabei so weit ich wollte in beiden Ebenen bewegen, ohne in eine gewollte Beziehung von Film und Musik gefesselt zu sein.. Es gab keine Notwendigkeit für eine Interaktion außer einer reduzierten zeitlichen Abstimmung. Unabhängig von der zweidimensionalen sinnlichen Wahrnehmung ist der entscheidende Faktor unserer Zusammenarbeit die Erschaffung einer geistigen Polarisation. Eher mit der Absicht, die Sinne zu öffnen, anstatt eine bestimmte, vorgefaßte Beziehung zwischen Bild und Ton herzustellen.

Übersetzt ins italienische und publiziert in: Close Up N°3, Storie della visione, Rom 1998
Übersetzt ins französische und publiziert in: Scratch Book , Les champs de perception, Paris 1998

Bibliography