"Film als Material", Auszug aus der Diplomarbeit von Bettina Iberer (Seiten 57-67) , Wien, Juni 2000
X. JÜRGEN REBLE
X. 1. BIOGRAPHIE
Jürgen Reble wurde 1956 in Düsseldorf geboren und lebt seit 1969
in Bonn. Gemeinsam mit Jochen Lempert und Jochen Müller gründete er
1979 die Experimentalfilmgruppe Schmelzdahin, die sich 1989 auflöste. Während
dieser Zeit legten sie ein umfangreiches Archiv aus gefundenem, gekauftem oder
selbstgedrehtem Filmmaterial an. Es entstanden zwanzig Kurzfilme, darunter auch
Stadt in Flammen, die sich mit bakteriologischen Zersetzungsprozessen
in der Filmemulsion beschäftigten. Die Filme, die Jürgen Reble nach
der Auflösung von Schmelzdahin realisiert hat, beschäftigen sich nicht
nur mit der Zersetzung von Found Footage, sondern mit der Veredelung durch chemische
Bearbeitung. Neben seiner Filmtätigkeit leitet er Workshops für Handentwicklung
und chemische Bearbeitung von Filmmaterial. Seit 1992 arbeitet er mit dem Tonkünstler
Thomas Köner zusammen. Ihre Film-und Klangperformances wurden international
eingeladen; u.a. aufgeführt im Louvre (Paris), im Nederlands Filmmuseum
(Amsterdam) und in der Spiral Hall (Tokio, Japan).1
X. 2. STADT IN FLAMMEN
D 1984, 16-mm, Farbe, 5 Min.
Filmdeskription: Auf dem schwarzen Vorspann ist in weißer Schrift Schmelzdahin
zeigt" zu lesen. Nachdem diese weggeschmolzen ist, erscheint der Titel
Stadt in Flammen" in Farbe, die Emulsion unter dem Schriftzug setzt
sich bereits in Bewegung. Es wird zum Filmgeschehen, welches sich in Zeitlupe
ereignet, übergeblendet. Man erkennt eine Frau und einen Mann, die im Film
immer wieder auftauchen. Die Farben ändern sich permanent, sodaß
nicht eindeutig feststellbar ist, ob es sich z.B. um dieselbe Akteurin in roter
Jacke handelt oder nicht. Die Jackenfarbe ist plötzlich dunkelgrau, nur
die markante Hutform läßt darauf schließen, daß es sich
um die selbe Frau handelt. Weiters sind eine Krankenschwester und ein Toter
oder Patient zu sehen, dem die Hand gehalten wird. Ähnlich wie der menschliche
Körper durch die Krankheit zersetzt wird, löst sich das Filmmaterial
durch seine vielfältige Bearbeitung auf. Die Menschen werden zunehmend
ununterscheidbar vom Filmgrund. Das Am-menschlichen-Körper-"
und Am-Filmkörper-Festhalten" hilft wenig, die bakterielle
Dekomposition", wie Jürgen Reble auch sagt, schreitet unaufhaltsam
voran. Die Filmsequenzen sind ohne traditionelle Muster von Struktur und Narration
miteinander verknüpft, trotzdem läßt sich eine mögliche
Handlung interpretieren. Die Bakterien als Krankheitserreger bringen das Bildmaterial
und den menschlichen Körper an den Rand der Erkennbarkeit. Über das
Gesicht eines Mannes huschen kleine Flammen, die das Zelluloid und somit ihn
verletzen. Die Filmschicht platzt auf und brodelt wie flüssige Lava. Das
Thema des Films hat sich in das Trägermaterial transferiert. Durch die
Spannung im Material entstehen Sprünge, die an Gemälderisse in Ölbildern,
aber auch an Arbeiten von Stan Brakhage denken lassen. Die Produktionsweise
im Film wird als beobachtbare Form dargestellt - als Metapher in einer Wanne
mit einem Photo, das gerade entwickelt wird. Der Entwicklungsprozeß zeigt
die Photographie als materiales Element des Filmbandes. Die Handlung des gefundenen
Spielfilms wird am Material direkt durch die manuelle und biologische Bearbeitung
thematisiert. Die Bakterien zersetzen die Emulsion und lassen sie wie alchemistisches
Schmelzgut aussehen.
Der Ton setzt nach dem Verschwinden des Titels ein. Er hat keine Supportfunktion,
sondern ist autonom und thematisiert wie die Filmbilder einen gestörten
Ablauf. Sinngelöste Laute eines Mannes sind zu hören, die scheinbar
psychische und physische Grenzzustände untersuchen. Die Dramaturgie des
Nach-Luft-Ringens und Gehüstels kulminiert am Ende in einen Hustenanfall,
der abrupt mit dem Bildmaterial abbricht.
X. 3. ENTSTEHUNGSBEDINGUNGEN UND BEARBEITUNGSMETHODEN
Die Ausgangsbasis bildet ein auf Super-8 kopierter, gefundener Katastrophenfilm
mit demselben Titel. Der Super-8-Film, den Kodak 1965 auf den Markt brachte,
und die Verbreitung von bespielten Tonkassetten war Teil der Jugend- und Subkultur
der 80er Jahre in Deutschland. Der Super-8-Film ließ sich aus der eigenen
Tasche finanzieren, die leichte und unaufwendige Handhabbarkeit erlaubte eine
große Mobilität. Häufig gab es für Live-Performances und
Konzerte nur die Filmoriginale. Jede Vorführung brachte den Film seiner
Vernichtung ein Stück näher. Dieses Filmformat wurde weitgehend vom
Videozeitalter verdrängt. Zur Wartung und Reparatur der Kameras und Projektoren
ist fast niemand mehr fähig, neue Geräte werden seit Jahren nicht
mehr erzeugt; auch Kodak will die Herstellung von Super-8-Filmen einstellen.2
Charakteristisch für dieses Format ist das grobe Korn aus dem die Emulsion
des Films zusammengesetzt ist. Seine Auflösung, wie die Schärfenzeichnung
des filmischen Bildes genannt wird, erinnert an pointilistische Gemälde.3
Das Found Footage-Material von Stadt in Flammen verbrachte längere Zeit
in einem Garten. Zu dieser Zeit untersuchten die drei Zelluloid-Alchemisten
von Schmelzdahin bakterielle Bearbeitungsmethoden und Verwitterungsprozesse
am Filmmaterial. Jürgen Reble äußert sich zur Entstehungsgeschichte
des Films:
»Also warf ich die Kopie an eine feuchte Stelle meines Gartens. Nach einem
heißen und feuchten Sommer erntete ich das Material, das ich inzwischen
bereits völlig vergessen hatte. Die drei aufeinanderliegenden Farbschichten
waren aufgeplatzt und hatten sich partiell vermischt. Die Farben waren aber
noch sehr rein und intensiv, hatten sich jedoch ihrer alten Form entwunden und
sich wie Kirchenfenster aus farbigen Mosaiken auf die alte Filmhandlung gelegt.«4
In die Emulsionsschicht des Farbfilms hatten sich Bakterien eingenistet. Die
übereinanderliegenden chemischen Schichten (im allgemeinen rot-, blau-
und grün-sensibilisierte Schichten) wurden durch ihre Vermehrung, den Einfluß
der Feuchtigkeit im Garten und des Regens untereinander vermischt oder Farbteile
wurden herausgewaschen. Es wurde eine Auswahl des Materials getroffen und eine
Kopie auf einer selbstgebauten optischen Bank angefertigt. Einzelne Filmbilder
schmolzen weg, da die Lampe des Projektors zu heiß wurde. Also fertigte
man von jedem Bild vier Kopien, die alle unterschiedlich waren, an und kopierte
sie übereinander. Der Film scheint dadurch zu pulsieren. Die Bearbeitungsspuren
werden nicht bloß als Beschädigung des Materials aufgefaßt,
sie übertragen ihre Ästhetik auf das Abgebildete selbst. Die filmischen
Fehlfunktionen im Sinne des klassischen Erzählkinos führen zu einer
Vernichtung der Erzählung und lllusion, und zu einer eigenen Schönheit.
Die Geschichte der Materialität von Bildern ist eine Geschichte der Verdrängung
des Schmutzigen. Hans Dieter Huber macht auf die alte Tradition aufmerksam,
die bis in das Mittelalter zu Augustinus zurückreicht, in der die Materialität
durch den Geist ausgelöscht und vertilgt wurde. Die kinematographische
Apparatur ist darauf angelegt, daß der Zuschauer die Technik und Vielzahl
von Operationen, die die Abbildung überhaupt erst möglich machen,
vergißt. Auf die materielle Basis, die ausgeblendet werden mußte,
weisen Künstler im 20. Jahrhundert in ihren Arbeiten verstärkt hin
und thematisieren sie in Form von selbstreferentiellen Anspielungen. Mediale
Störungen wie Filmriß, Bildstörung und Staub, die sonst ausgeblendet
gehören, werden thematisiert. Technik und Maschinerie werden nicht als
neutral angesehen.5 Hans Dieter Huber schreibt in seinem Aufsatz Kommunikation
in Abwesenheit. Zur Mediengeschichte der künstlerischen Bildmedien."
von medialen Störungen", durch deren Auftreten ein neues Bewußtsein
für die Bedingungen und Möglichkeiten des Mediums entstehen.
»Erst über die Reflexion der Störung und ihren Einbau als Selbstreferenz,
als Bezugnahme auf sich selbst, gelingt es den Bildmedien, einen Zugang zu entwickeln,
der von der spezifischen Materialität des eigenen Mediums ausgeht und nicht
von den reproduktiven Fähigkeiten fremdreferentieller Imitationen.«6
Die Wiederkehr des Verdrängten" (Mediums) macht sich zuerst
nur als Störung, schließlich als Zerstörung der Form bemerkbar,
die es hervorgebracht hat. Jedoch kann der Film über die Störung informieren,
ohne selbst ein Bild der Zerstörung darzustellen. Joachim Paech erkennt
richtig, daß die Störung der Oberfläche des belichteten Filmmaterials
selbst ein Bild hervorbringt, anders wäre sie nicht darstellbar. Der Film
wird als Zeichensystem und nicht als Wirklichkeit wie im klassischen Hollywoodkino
bewußt gemacht. Für den Beobachter ist die Wiedereinführung
des Mediums in die medial bedingte Form als (Zer-)störung der Form inszeniert.
Er nimmt das Erscheinen der (Zer-)störung oder des Verschwindens wahr,
wo das Verschwinden als sein Erscheinen, wo die (Zer-)Störung als seine
Konstruktion auftreten. Es kommt zu der paradoxen Situation der Gleichzeitigkeit
von Erscheinen und Verschwinden, Zerstörung und Konstruktion. Durch die
bewußt graduelle Zerstörung der Oberfläche gewinnt der Film
einen neuen formalen Reiz. Es wird auf die materiale Struktur (die Materialität
des Signifikanten) verwiesen.7 Der Film dient nicht nur der Übermittlung
von Botschaft, vielmehr ist er am Gehalt der Botschaft selbst beteiligt. Ihm
ist ein sinnmiterzeugendes und nicht bloß ein sinnübertragendes Potential
zuzusprechen.
Die Medientheorien von Marshal McLuhan und Niklas Luhmann kommen in diesem Zusammenhang
zu entgegengesetzten Auffassungen. Marshal McLuhan hat in den 60er Jahren die
These formuliert, das Medium sei die Botschaft. Niklas Luhmann unterscheidet
seit Ende der 80er Jahre zwischen Medium und Form als lose und rigide gekoppelte
Elemente. Für McLuhan sind Medien nicht-neutral und formen die Botschaft;
für Luhmann sind Medien neutral und somit gerade nicht die Form der Botschaft.
McLuhan zeigt, daß Techniken wie auch Medien den Status eines Mittels
haben, deren Eigenstruktur und Eigendynamik sich nicht unterordnet. Technik
gilt als Organerweiterung und Organverstärkung, die zur künstlichen
Ausweitung des menschlichen Körpers wird. Das, was an den Medien manifest
wird, liegt indem, was Medien zu einer Art von technischen Werkzeugen macht.
Luhmann teilt diese Auffassung von der Technik als Urbild des Medialen nicht.
Er geht von der Unterscheidbarkeit zwischen loser und starrer Kopplung von Elementen
aus. Wo Elemente nur lose gekoppelt sind, sodaß sie unbestimmt bleiben,
dafür aber empfänglich sind für Strukturierung, handelt es sich
um ein Medium. Dasjenige was diese lose Verknüpfung dann zu strukturbildenden
Mustern verdichtet, ist die Form. Das Medium bei Luhmann macht also nichts,
es enthält nichts. Es werden nicht die Medien selbst, sondern nur die Formen
wahrgenommen. Seine Medientheorie geht nicht nur von der prinzipiellen Trennbarkeit
von Stoff und Form aus, überdies nimmt sie auch an, daß die Funktion
der Form prinzipiell unabhängig ist vom Material. Mit Medium"
und Form" benutzt er Worte, die in unserem Kulturkreis mit den Begriffen
des Weiblichen und des Männlichen konnotiert sind.8 Diese beiden Medientheorien
sind geleitet von unterschiedlichen Intuitionen, die zu entgegengesetzten Ergebnissen
führen.
Wenn ein technisches Instrument eingesetzt wird, so wird mit" dem
Instrument etwas gemacht. Es wird gebraucht und zurückgelassen. Das Bearbeitete
hat eine vom Werkzeug durchaus ablösbare Existenz. Wenn hingegen eine Botschaft
empfangen wird, so ist diese in" einem Medium gegeben. An ein Medium
ist man gebunden, in ihm bewegt man sich. In einem Medium Gegebenes kann vielleicht
in einem anderen Medium, nicht aber ohne Medium gegeben sein. Sybille Krämer
ist der Ansicht, daß alle Theorien, welche Medien als äußerliche
Vehikel und Träger ihrer Botschaft begreifen, diese ihre nicht-instrumentelle
Dimension verfehlen. Sie behandeln Medien, als ob sie Instrumente seien. Die
instrumentalen und medialen Aspekte, die Technik als Werkzeug und die Technik
als Medium spielen bei jedem technischen Erzeugnis zusammen, allerdings mit
je unterschiedlichem Gewicht.9
Die Eigensinnigkeit des Mediums kann als Spur eines Abwesenden gedacht werden.
Der Film ist nicht einfach die Botschaft, Stadt in Flammen bewahrt die
Spuren des Mediums. Es gibt keine Bildlichkeit ohne Medium. Form und Medium
können nicht voneinander gelöst, nicht gegeneinander isoliert gedacht
werden.
Das bestehende Genre-Material mit seinen versteinerten Narrationsmustern wird
aufgelöst und in einen neuen Aggregatzustand überführt.
»Unter der Einwirkung von zusätzlichen Chemikalien und der Hitze
der Projektionslampe zerfielen die Bilder mehr und mehr, bis nur noch eitrige,
blubbernde Blasen auf der Leinwand zu sehen sind. Das latente Filmbild, einst
mit Entwickler und Fixierbad überhaupt sichtbar gemacht, wird hier mittels
Chemikalien wieder zum Verschwimmen gebracht.<<10
Der französische Philosoph Gilles Deleuze schreibt, wenn er vom Wahrnehmungsbild
spricht, von den drei Bildzuständen fest, flüssig und gasförmig
und ihrer unterschiedlichen Wahrnehmung. Vom Festzustand aus, indem die Moleküle
sich nicht frei verlagern können (menschliche Wahrnehmung) gelangt man
zum flüssigen Zustand, hier verlagern und verschieben sich die Moleküle
ineinander und gelangen schließlich zum gasförmigen Zustand, der
jedem Molekül freie Bahn läßt.
Eine Gruppe von Filmemachern versucht tatsächlich, eine reine Wahrnehmung,
wie sie in den Dingen oder in der Materie auftritt - überall dort, wo molekulare
Wechselwirkungen ablaufen - zu erreichen. Sie versuchen, mit unterschiedlichen
Mitteln, die Konstruktion einer gasförmigen Wahrnehmung. Wenn Stan Brakhage
alle Grünfarben filmt, die ein Kleinkind in der Wiese sieht, dann erforscht
er ähnlich wie der Maler Paul Cézanne die Welt. In den Arbeiten
von Ken Jacobs werden Farbformen und -bewegungen bis auf molekulare und atomare
Kräfte zurückverfolgt. George Landow faßt in Bardo Follies
den Übergang vom flüssigen zum gasförmigen Zustand zusammen.
Ähnlich wellt sich in Stadt in Flammen die ganze Leinwand in zerfließendes
Zelluloid. Stilistische Verfahren lassen das Material spürbar werden. Von
der Realdefinition wird zu einer entwicklungsgeschichtlichen Definition der
Wahrnehmung übergegangen, zu einer feineren, ausgedehnteren Wahrnehmung
- zu einer molekularen Wahrnehmung.11
Der Gegensatz Materie - Geist geht auf die Vorstellung zurück, daß
feste Körper verflüssigt und flüssige gasförmig werden können,
und dabei aus dem Blickfeld verschwinden (z.B. Atem als gasförmiges Synonym
des festen menschlichen Körpers). In der modernen Wissenschaft ergibt sich
ein anderes Weltbild aus der Vorstellung des Wechsels der drei Aggregatzustände.
Der Gegensatz Materie- Energie erinnert an Spiritismus. Materie kann in Energie
und Energie in Materie verwandeln werden.12
Die Haltung von Jürgen Reble, daß Film als Repräsentant der
stofflichen Welt niemals fixierbar ist, sondern sich im Laufe der Zeit stets
im Fließen und somit sich ständig in Veränderung befindet, kommt
der Idee vom gasförmigen Zustand sehr nahe:
»Ich spüre kein verstärktes Bedürfnis, meine Arbeiten in
fest definierten Formen und Zuständen zu präsentieren. Meine Idee
ist die des Prozesses. (...) Bilder, die vor Jahren als Kopie veröffentlicht
wurden, sehen im Original inzwischen völlig verändert aus oder sind
sogar annähernd verschwunden. Das ist das eigentlich Interessante bei der
Arbeit, zu sehen, wie die Formen und Farben sich in einem Fluß befinden.<<13
Das Filmbild, das mit Entwickler und Fixierbad überhaupt erst sichtbar
gemacht worden ist, wird mittels Chemikalien wieder zum Verschwimmen gebracht.
Deleuze kommt in seinen Studien zum Film von einem ganz anderen Ansatz her zu
ähnlichen Überlegungen wie die Physik. Im physikalischen Materie-Begriff
geht es um die mathematisch faßbare Struktur der Materie. Durch den Paradigmenwechsel
in der Physik (Relativitätstheorie und Quantenphysik) hat man sich von
der Newtonschen Auffassung der Materie als träge und passiv abgewendet,
hin zu einem unanschaulichen Modell einer dynamischen Welt, in der Materie sich
in Energie auflöst. Der Sturz der Materie eröffnete eine Sicht auf
das Universum, indem sich die Substanz auflöst in ein System von Wellen,
Teilchen, Energie und Information. 14
Stadt in Flammen bewegt sich in der Zone zwischen Materialität und
Immaterialität, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Das Materielle
ist notwendig und sichtbar, um das Immaterielle zu visualisieren. Filmbilder,
die aussehen wie mikro- und makrokosmische Vorgänge, die ebenso als biologische
Zusammenhänge der Befruchtung oder Zellteilung betrachtet werden können,
sind in den Filmen von Brakhage, Lye und Reble vorzufinden.
Jürgen Reble bearbeitet seine Filme mit unterschiedlichen Methoden:
1) Mechanische Bearbeitung
2) Biologische Bearbeitung
3) Chemische Bearbeitung
ad 1) Mit Hilfe von Schwingschleifer, Lochzange, Schere, Nähmaschine, Messer,
Hammer und Lötkolben werden die drei Farbschichten abgetragen oder durchdrungen.
Dies alles geschieht nicht, um das Material zu quälen, sondern um die Grenzen
der filmischen Realität, die noch projizierbar ist, auszuloten. Die meisten
Ergebnisse dieser frühen Arbeitsperiode sind fragmentarisch erhalten, oder
haben sich in ihre molekularen Bestandteile zersetzt.
Film: Rudi Dörfert, 1984, Schmelzdahin.
ad 2) Eigene und vorgefundene Super-8-Filme werden monatelang in Bäume
gehängt und der Verwitterung ausgesetzt. Die intensive Sonnenbestrahlung
brennt nach etwa ein bis zwei Monaten als erstes die Gelbschicht weg. Durch
Wind und Regen wird die Gelatineschicht nach einem halben Jahr porös und
es bilden sich Risse. Hin und wieder werden die Filmstreifen mit Chemikalien
eingestrichen. Durch die Verwitterung und den chemische Zerfall löst sich
die alte Filmhandlung weitgehend auf, aus s/w-Bildern werden allmählich
farbige. Film: Zillertal, 1997.
Filme, die in den Gartenteich geworfen wurden, werden etwa ein Jahr später
geerntet. Das Material zeigt, daß nur noch der Bildträger von der
ursprünglichen Filmkopie übriggeblieben ist. Auf ihm haben sich Algenkulturen
angesiedelt, die nun zum Bildinhalt geworden sind. Dieser Vorgang ist in Aus
den Algen (1986) dokumentiert. Die Verluste bei der Arbeit mit Bakterien
sind sehr groß, sodaß nur durch Selektion an ein Weiterarbeiten
gedacht werden kann. Auch sind bakteriologische Zersetzungsprozesse in der Filmemulsion
nur schwer oder gar nicht steuerbar. Gegenwärtig benutzt Jürgen Reble
bakterielle Methoden und Verwitterung wegen des großen Materialausschusses
nur noch selten.
ad 3) In den letzten Jahren der Zusammenarbeit mit Schmelzdahin wurden chemische
Prozesse während und nach der Entwicklung des Filmmaterials untersucht.
In den Experimenten mit Farbfilm wurde der PH-Wert des Farbentwicklers verändert,
starke Temperaturschwankungen zwischen den Bädern eingeführt oder
Entwicklungsprozesse unterbrochen und chemische Zwischenbäder (Bleich-
und Ätzbäder) eingefügt, die im Standardprozeß nicht vorgesehen
sind. Das Filmmaterial wurde kreuz und quer in kleine Entwicklungsdosen gestopft
und mit geringen Mengen hochkonzentrierter Lösung unter unregelmäßiger
Bewegung der Dose entwickelt. Das führte zu Resultaten wie Farbverschiebungen
innerhalb der Farbschichten, mehrfache farbige Pseudo-Solarisationen, Runzelkorn
oder gar Verlust ganzer Farbschichten. Der Schwarzweißfilm erwies sich
bei der chemischen Bearbeitung wesentlich interessanter als der Farbfilm. Dabei
wird vorwiegend auf Verfahren aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts zurückgegriffen.
Durch die Anwendung der Tonungstechnik lassen sich die schwarzen Bildsilberanteile
gegen andersfarbige Metalle austauschen; bei Schwefelverwendung entsteht Braun,
bei Kupfer Rotbraun, bei Uran Gelbbraun etc. Weiße Bildstellen bleiben
weiß. Film: Rumpelstilzchen, 1989.
In der Materialaktion Alchemie (1992) wird während der Projektion eine
10 m lange Filmschleife entwickelt, chemisch bearbeitet und mit der Zeit zersetzt.
Man nimmt an einem Stoffwechselprozeß teil, bei dem Form und Farbe ständig
neu entstehen und vergehen. Die Prozesse sind nicht fixierbar, sie lassen sich
auch nicht wiederholen. Alchemie stellt eine radikale Abkehr vom Museums- und
Kunstbetrieb dar, indem Kunst nur als wertvolle Substanz gehandelt und erhalten
wird.
Das Experimentieren mit den dazugehörigen Projektionsmaschinen führt
zu verschiedenen künstlerischen Ansätzen, die im Bereich der Performance,
der Installation und der Material- bzw. Emulsionserforschung angesiedelt sind.
»Beim Film ist der gesamte technische Ablauf, von der Aufnahme in der
Kamera, der Entwicklung im Labor, bis hin zur Projektion überschaubar.
An jeder Stelle ist es möglich einzugreifen, Dinge aus ihrem Zusammenhang
zu lösen und in einen neuen zu stellen. So verliert die Technik ihre Funktion
als bloßes Hilfsinstrument und wird selbst künstlerischer Zeichenträger.«15
Die jüngeren Arbeiten untersuchen die chemisch-physikalischen Beschaffenheiten
des Films, indem Salze in kristalliner Form mit Farbstoffen angereichert direkt
in die Filmemulsion zwischen den Resten von Bildern eingelagert werden. Sie
verändern unaufhörlich die Formen der bewegten Bilder und veranschaulichen
gleichzeitig den bizarren Reichtum der chemischen Filmelemente auf dem Träger.
Chemische Bearbeitung und Bemalung des Filmmaterials gehen oft Hand in Hand,
da die Farben chemischer Natur sind. Die Farbstoffe hinterlassen beim Trocknen
biomorphe Strukturen mit malerischer Qualität.
Ein Beispiel für die Kombination mit neuen Technologien bei der Bearbeitung
ist Das goldene Tor (1992). Hier wurden computeranimierte Bilder auf
Film kopiert und anschließend chemisch zersetzt.16
X. 4. TONBEHANDLUNG
In Stadt in Flammen wird eine Tonbandaufzeichnung 1:1 verwendet. Die Töne
der Männerstimme wurden durch Hämmern mit der Faust gegen den Brustkorb
erzeugt. Mit diesen Lauten assoziiert man die Klangmusik der Musique concrete
um Pierre Schaeffer und die Lautgedichte des Lettrismus um Isidore Isou und Maurice
Lemaître in Frankreich, deren Vorläufertum im Futurismus, Dadaismus
und Surrealismus zu finden ist. Die futuristischen Filmmanifeste von 1916 forderten
bereits eine vom üblichen Sinnzusammenhang gelöste Wort- und Geräuschkunst.
Als Eckdaten wären 1942, das Lettristische Manifest von Isidore Isou und
1948, die Erfindung" einer Lautsprechmusik mit konkretem Klangmaterial
(Musique concrete) von Pierre Schaeffer zu nennen.
Die Verbreitung der Tonbandgeräte war eine der Vorraussetzungen dafür,
daß ab 1960 viel mit Tonbandmusik (Tape Music) experimentiert wurde. Musik
konnte direkt, ohne Partitur und Interpreten erzeugt werden. Der Musique concrete
liegen keine stringenten Aufzeichnungsmethoden zugrunde. Sprachverwendungsorientierte,
materialästhetische Aspekte stehen im Zentrum des Interesses. Vorgefundene
Geräusche und Klänge der Umwelt werden ähnlich wie Filmmaterial
in Found Footage-Filmen verarbeitet und verfremdet.
Der Lettrismus hat die wichtigste Umwälzung vollbracht, indem er proklamierte,
daß Verse nicht allein aus dem jahrhundertealten Einheitsmaterial - den
Worten - bestehen müssen. Sprache wird als Lautmaterial aufgefaßt,
bei dem die Funktion der Kommunikation ausgeblendet, gleichzeitig die herrschende
Kultur angegriffen wird. Nach den Ansichten von Maurice Lemaître (1954)
kann ausschließlich der Mensch, der als Instrument betrachtet wird, verschiedene
Klangpartikel, Buchstaben und Laute produzieren. Seine Definition beinhaltet,
daß Klänge und Geräusche benutzt werden können, die durch
die Finger, die Hände, die Füße des Interpreten produziert werden,
genauso wie durch seinen Mund, seine Nase, seine Kehle und seine Lippen.
»Der Mensch ist ein Instrument, auf dem man nicht genug spielt. Es handelt
sich doch nicht mehr um Worte, pfui! Es handelt sich um eine Musik des Menschen.
Ein Mensch singt, potztausend, er schreit, das ist besser: er pfeift, er pustet
in die Hände, und zwar so: ffft! Er stampft mit den Füßen, schlägt
auf seine Brust, kann selbst den Kopf gegen die Mauer schmettern (...)<<17
Neben Konsonanten, Vokalen und Zwielauten aller Sprachen und Dialekte weltweit
verwendet der Lettrismus erfundene Buchstaben und Laute, die mit den besonderen
Eigenschaften der Stimme versehen werden können. In den Aussagen von Wendt/Ruppenthal
über Soundpoetry wird der Sprechakt
»(...) zu einem eigenen Inhalt/Gegenstand: einem eigenen formbaren Rohmaterial",
das wie Lehm in ein Audio-Objekt" geformt werden kann. (...) ein selbstbewußter
Versuch, zur völligen Tastbarkeit" der menschlichen Spracherfahrung
zu gelangen. Dieser Versuch, dasjenige zu erreichen, was konkret und konstant
in der menschlichen Erfahrung ist, ist auch eine Erforschung dessen, was primitiv
und in der Wahrnehmung simultan ist (...)<<18
Die Sprechorgane sind nicht bloß Trägerinstrumentarien, die sprachliche
Entäußerungen erfahrbar machen, sie können auch jenseits ihrer
aufgabenorientierten Gerichtetheit eine ausdrucksorientierte Laut-Gestik erzeugen.
Die inszenatorisch eingesetzten Sprechwerkzeuge mit allen ihren physischen Merkmalen
überlagern den stimmlich transportierten Sprechakt, z.B. können Hust-,
Atem-, Schnarch- und Schmatzgeräusche, ansonsten nur als Hintergrund gehört,
isoliert wahrnehmbar gemacht werden. Der menschliche Körper bildet das Ausgangsmaterial,
Werkzeuge im weitesten Sinne sind
»Atemzüge (...), wo in erster Linie Lungen und Zwerchfell tätig
sind und ein Luftstrom gebildet wird. Kehlkopfspannungen & Gurgelrollen (...),
wo die Kehlkopfregion aktiv wird und jener Luftstrom vorstrukturiert wird. Mundstücke
(...), wo es um die Formung von Mundräumen geht, in denen der Luftstrom endgültig
ausgeformt wird. Zungenschläge & Lippenspiel (...), wo Zungen- und Lippenbewegungen
gebildet werden und dadurch der Luftstrom noch zusätzlich Brechung und Strukturierung
erfährt.<<19
Bildmaterial und Ton verbindet in Stadt in Flammen eine Gestaltungsform,
die mit einer Störung des Trägermaterials (menschlicher Stimmapparat,
Filmstreifen) einhergeht. Das Material bildet die Klangnotation (Buchstaben) der
menschlichen Stimme, der Mechanismus ist die Stimme selbst. Physische, stimmliche
und filmische, Wirkungsräume werden erforscht.
Anmerkungen:
1 Vgl. Filmographische Daten im Anhang dieser Arbeit, S. 81.
2 Vgl. http://www.rz.uni-frankfurt.de/presse/infos/970701c.htm
3 Anm.: Die Körnigkeit ist abhängig vom Filmformat, d.h. von der Breite
des Filmstreifens. Weiters sind empfindlichere Filme grobkörniger, weniger
empfindliche geben schärfere, feinkörnigere Bilder wieder. Die Probleme
der Auflösung und Schärfe beim 35-mm-Film vervielfachen sich beim
16-mm-Film, und sind 16mal so groß beim 8-mm-Film. Eine grobkörnigere
Textur erhält man zusätzlich durch Unterbelichtung.
4 Reble, Jürgen: Private Unterlagen. Zit. mit freundlicher Genehmigung
des Autors, o.S.
5 Vgl. Huber, Hans Dieter: Materialität und Immaterialität der Netzkunst.
In: Kritische Berichte, Zeitschrift für Kunst-und Kulturwissenschaft. Sonderheft
Netzkunst: Heft 1, Jg. 26, 1998.
6 Huber, Hans Dieter: Kommunikation in Abwesenheit. Zur Mediengeschichte der
künstlerischen Bildmedien. http://www.hgb-leipzig.de/ARTNINE/huber/aufsaetze/mediengeschichte.html
7 Vgl. Paech, Joachim: Figurationen ikonischer n... Tropie. Vom Erscheinen des
Verschwindens im Film. In: Schade, Sigrid u. Tholen, Georg Christoph (Hg.):
Konfigurationen zwischen Kunst und Medien. München: 1999, S. 122 - 135.
8 Vgl. in dieser Arbeit: Nicht-materialistische und materialistische Denkformen.
S. 20 - 23.
9 Vgl. Krämer, Sybille (Hg.): Das Medium als Spur und als Apparat. In:
Medien - Computer - Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien.
Frankfurt/M.: 1998, S. 73 - 90.
10 Wegenast, Ulrich: Stadtkino-Programm: In Person. Jürgen Reble. Veranstaltet
von Sixpackfilm, Wien: 10. - 11. Nov. 1999, o.S.
11 Vgl. Deleuze, Gilles: a.a.O., S. 103 - 122.
12 Vgl. Flusser, Vilem: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie
der Medien. Bd. 1, Bensheim u. Düsseldorf: 1993, S 287.
13 Reble, Jürgen: Private Unterlagen, o.S.
14 Vgl. Hoberg, Almuth: Film und Computer. Wie digitale Bilder den Spielfilm
verändern. Frankfurt/M., New York: 1999, S. 23.
15 Zit. n.: http://www.foro-artistico.de/deutsch/program/partikel.htm
16 Vgl. Reble, Jürgen: Private Unterlagen, o.S.
17 Schaeffer, Pierre. Zit. n.: Lentz, Michael: Lautpoesie/-musik nach 1945.
Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme. Bd. 1, Wien: 2000, S. 148.
18 Wendt/Ruppenthal. Zit. n.: Lentz, Michael: a.a.O., S. 84.
19 Schnebel, Dieter. Zit. n.: Lentz, Michael: a.a.O., S. 85.