Materialsammlung "Je Bilder desto wilder" Super 8-Filme der 80er Jahre, 17.-20.7 1997, Frankfurt


Schmelzdahin

Weniger als Performancegruppe denn als reines Filmproduktionskollektiv sind Schmelzdahin aus Bonn zu verstehen, wenngleich es bei der Gruppe durchaus zu öffentlichen Filmaktionen kam. Im Laufe ihrer sechsjährigen gemeinsamen Filmproduktion von 1983-1989 legten sich die Mitglieder Jochen Lempert, Jürgen Reble und Jochen Müller ein umfangreiches Archiv von gefundenem, gekauftem oder selbst gedrehtem Filmmaterial zu. Die Grundidee ihrer Arbeit bestand nicht nur darin, einzelne Filmsequenzen neu zu kombinieren, um ein weites Feld von Assoziationen und Korrelationen zu erzeugen. Wichtiger Aspekt war die verschiedenartige und außergewöhnliche Behandlung des Materials. Monatelang lagen bestimmte Filmstreifen in einem Teich, bis sich Algen am Material anlagerten. Bakterien griffen die Filmschicht während der Lagerung in einem Garten an. Die "Filmernte" wurde anschließend gesäubert und getrocknet und auf einer selbstgebauten Maschine kopiert. Die zufälligen Ergebnisse des Zersetzungsprozesses wurden nach ästhetischen Kriterien genau studiert, bis es zur endgültigen Selektion der Filmstreifen für die jeweiligen Produktionen kam. In der kaum berechenbaren biochemischen Transformation des Filmmaterials entdeckten die Filmforscher das "Naturwunder Zelluloid". Beim Wiederabfilmen wurden durch die Überhitzung des Materials ebenso neue visuelle Dimensionen von Film hervorgerufen, die von Farbveränderungen bis zur Blasenbildung reichten. Nicht selten löste die Poesie der brüchigen Bilder bei Filmkritikern Befremdung aus:

"Sie versetzen den Rezipienten lediglich in zusammenhangslose Stimmungsmomente, die keine Grundlage für Denkstrukturen zurücklassen. Dazu löst sich die Filmtechnik von allen Konventionen: Streckenweise sind auf der Leinwand nur verschmierte Farben oder Schatten zu erkennen, bemängelten Filmkenner."

[...] Über die reinen Filmproduktionen hinausgehend, kam es häufig zu öffentlichen, performanceartigen Präsentationen ihres speziellen Filmhandwerks. Den Ablauf und die ästhetischen Möglichkeiten einer derartigen Filmperformance beschreibt Klaus Peter Karger in der Badischen Zeitung wie folgt:

"Es hat etwas Geheimnisvolles an sich. Auf dem Tischchen vor der Leinwand ist der Super 8-Projektor aufgebaut, ein altes Gerät, dem anzusehen ist, was es schon alles mitgemacht hat. Zu einer wenige Meter langen Endlosschleife zusammengeklebt ein Stück aus einem Schwarzweißfilm, ein deutscher Western, einst für den Heimgebrauch vom Kinoformat auf Super 8 kopiert, als es noch kein Video gab. Der Film wird über einen Kleiderbügel und mehrere Drahtösen so umgelenkt, daß die gleichen Bilder wieder und wieder durch den Projektor laufen. Flackernde Kerzen erhellen den Tisch gerade soweit, daß die beiden Alchimisten von der Bonner Experimentalfilmgruppe Schmelzdahin das Material simultan zur Vorführung bearbeiten können. Es dampft, wenn sie Salzsäure auftragen. Der Film wird durch zersetzende Lösungen gezogen, zerkratzt, mit einer Lochzange gestanzt, mit Lasurfarben behandelt. Ständig verändern sich die Bilder auf der Leinwand, kein Durchlauf ist mehr so wie der vorher gesehene. Das schwarzweiße Bild bekommt braungelbliche Patina, wird dann glutrot, vom rechten Rand läuft eine Spur blau hinein. Unter der Einwirkung der Chemikalien und der Hitze der Projektionsbirne zerfallen die Bilder mehr und mehr, bis nur noch eitrige, blubbernde Blasen auf der Leinwand zu sehen sind. Das latente Filmbild, einst mit Entwickler und Fixierbad überhaupt sichtbar gemacht, wird hier mittels Chemikalien wieder zum Verschwimmen gebracht."

(Ulrich Wegenast, Der Experimentalfilm im deutschsprachigen Raum 1977 bis heute, Stuttgart 1996)

"Mit Gefühl und Wellenschlag und heftigem, stoßweisem Denken"

Der General

Schmelzdahin, S 8, 1987, 13 Min., s/w und Farbe

Evolution
Zivilisation
Zerfall
Gehirn
Ameisen
Reptilien
Fische
Mensch

Hab ich gesehen - der General schafft es, mit Bildern zu erzählen, nicht mit den Mitteln der Literatur und einer theatralen Dramaturgie der Endlichkeit. Seine Bilder sind wie neue Bilder. Eine Figur mit Schirmmütze taucht ein wie in eine Unterwasserwelt, sucht und inspiziert die Spuren, die natürlichen wie die düsteren, die Natur und Menschheitsgeschichte bis heute zurückgelassen haben. Der Blick wird gewischt wie Augenreiben. Gesucht wird das Ende eines Seils. Das scheint es nicht zu geben. (Michael Herkenrath in SWF 2, Kultur Aktuell, 7.12. 1987)

Stadt in Flammen

Schmelzdahin, S 8, 1984, 6 Min., Farbe, Ton

 
 

 Stadt in Flammen is the most volcanic film I've ever seen; the emulsion literally crawls off the film base, like a lava flowing across terrain. Vague generic hospital (soap opera?) footage cracks and crumbles, seeths in the frame in a slow-motion dissolve. Like ancient paintings crack and fall away from their surfaces. This is the other side of Schmelzdahin - the mutilated film. Though they may sumtimes claim to shoot no film themselves (only re-working found footage), don't believe it. Schmelzdahin also have built a super 8 optical printer with which they make their film discoveries. (Owen O' Toole 1989/90)

Stadt in Flammen ist der explosivste Film, den ich je gesehen habe; die Emulsion kriecht über den Film wie zähflüssige Lava übers Land. Schemenhafte Teile einer Soap-Opera reissen auf und zerfallen, brodeln geradezu in ihrer Auflösung in Zeitlupe. Wie uralte Gemälde bekommen sie Sprünge und lösen sich von ihrer Oberfläche. (Owen O'Toole)

 

 

 

15 Tage Fieber

Schmelzdahin, S 8, 1989, 15 Min., Farbe,Ton

Wir waren etwas fiebrig, als wir begannen, mit einem besonderen Farbverfahren zu arbeiten. Man erhält bei der Entwicklung wundervolle Blau- und Gelbabstufungen sowie farbige Solarisation. Erstaunt benutzten wir dieses Verfahren zwei Wochen lang. Dann brach das Fieber wieder aus. Damals hörte man Musik von Gilbert und Lewis, also haben wir ein Stück auf die Tonspur aufgenommen. (Jürgen Reble, Katalog Lightcone, 1997)

Die lange Nacht der Kaiserpinguine

Schmelzdahin, S 8, 1984, 4 Min., s/w, Ton

Studium der Biogeographie in Antarktika. (Schmelzdahin)

Weltenempfänger

Schmelzdahin, S 8, 1984, 8 Min., Farbe, Ton

Es handelt sich um einen Tierfilm über die Flüge der Vögel bei rötlich schimmernden Sonnenuntergängen. Auf der Tonspur ein Summen von Radiogeräuschen, das manchmal dem Geräusch eines Flugzeugs ähnelt. Mir scheint, es kritisiert diesen absurden Wunsch der Menschen, fliegen zu wollen, wenn man ihn mit dem Flug der Vögel vergleicht. Weltenempfänger, die Meeres- und Wüstenlandschaften sind rot gefiltert, von monochrom roten Bildern unterbrochen, die reine Farbe dient als Überblendung, die Vögel verschwinden im Gelb und Rot. Die Farbe wird als Schicht auf das Bild aufgetragen, wobei sein Ausschnitt, seine Bildfläche und seine abbildende Dimension erhalten bleiben. Sie entrealisiert und denaturiert, wobei ihr Farbton und nicht ihre figurative Kraft arbeitet: sie bleibt diskret, weniger scharf als die schimmernden Formen disharmonischer Verbindungen, die charakteristisch für die Arbeit von Schmelzdahin sind. (Nicole Brenez, Katalog Lightcone 1997)

Aus den Algen

Schmelzdahin, S 8, 1986, 10 Min., Farbe, Ton

1985 warf ich eine Filmkopie in meinen Gartenteich, ich glaube es war Ali Baba und die 40 Räuber. Etwa ein Jahr später wurde geerntet. Dieser Vorgang ist in Aus den Algen dokumentiert. Anschliessend sieht man das geerntete Material, bei dem nur noch der Bildträger von der ursprünglichen Kopie übriggeblieben ist. Auf dem Träger haben sich Algenkulturen angesiedelt, die nun zum Bildinhalt werden. (Jürgen Reble)

Krepl

Schmelzdahin, S 8, 1989, 8 Min., Farbe, Ton

Mit Krepl nimmt die politische Dimension der Arbeiten von Schmelzdahin Gestalt an. Die Farbe blättert hier von den Bildern wissenschaftlicher oder kolonialer Dokumentarfilme. Entsetzlich der dünne Farbauftrag, den die vom Skalpell zerstückelten Körper fordern, diese riesigen Hamster, diese Ureinwohner, bedroht von einer Kamera, die sie erfolglos zurückstoßen. Die unmenschliche Verstümmelung der Kreaturen bestimmt die farbliche Pathologie. Die Farbe muß nicht nur als plastische Befreiung, sondern auch als politische Geste verstanden werden: Sie wird der filmische Weg, den heute das Aufbegehren häufig wählt. (Katalog Lightcone 1997)

Rumpelstilzchen

Jürgen Reble, S 8, 1989, 15 Min., Farbe,Ton

 Die Verwandlung einfacher Elemente zu Gold.

 

The Flamethrowers

Das ursprüngliche Material dieses Filmtriptychons (das später auf einen 16-mm-Filmstreifen übertragen wurde) war eine beinahe verbrannte Kopie des Pather Panchali von Satyajit Ray. Der amerikanische Künstler Owen O'Toole schickte diesen Film an die Mitglieder von Alte Kinder mit der Bitte, auf ihn eine künstlerische Antwort zu geben - der Beginn einer transatlantischen Kooperation von Filmemachern. Die in Bonn wirkende Künstlergruppe Schmelzdahin schuf den dritten und letzten Teil dieses Spiels visueller Assoziationen. (Alte Kinder, 1990)

The original material of this film triptych (which was later transferred onto one 16-mm filmstrip) was an almost burnt print of Pather Panchali by Satyajit Ray. The American artist Owen O'Toole sent this film to the members of Alte Kinder asking them to react on it artistically - the beginning of a transatlantic co-operation of filmmakers. The Bonn based artist's group Schmelzdahin created the third and final part of this game of visual associations. (Alte Kinder, 1990)