Revue et Corrigee n° 12, Frühjahr 1992
Cinéma experimental - Jürgen Reble / Grenoble, 4.-5. März
Es beginnt im Dunkeln. Der Super 8 Film, gezeigt in einer Schleife, dreht sich in dem völlig abgenutzten Projektor. Die Negativbilder wiederholen sich auf der Leinwand, dann nimmt Jürgen Reble den Film und taucht ihn in verschiedene chemische Substanzen. Das Bild verwandelt sich in ein Positiv, verliert seine Konturen, um sich schließlich in Form von kleinen Bläschen aufzulösen.
Eine Performance von Jürgen Reble ist vergleichbar mit einem Zyklus von der Geburt bis zum Tod eines Filmes. Der Film, Basiselement der Filmindustrie, wird in seinen Urzustand zurückverwandelt: in seine Moleküle.
Jürgen Reble war Mitglied der Gruppe Schmelzdahin zusammen mit Jochen Lempert und Jochen Müller. Heute widmet er sich alleine seinen Filmexperimenten, mit genauso peinlicher Genauigkeit und Konzentration wie ein Alchimist seinen Arzneimixturen, unter dem verworrenen Blick der Sterne.
Interview:
R&C: Wann hast du die anderen beiden von Schmelzdahin kennengelernt?
J.R. : Jochen Lempert habe ich 1972 in der Schule kennengelernt. Wir haben unsere ersten Super 8 Filme 1974 gemacht, auch einen Trickfilm mit Knetgummi. Außerdem haben wir zahlreiche Witzfilme gedreht. Wir hatten dabei nicht die Absicht, sie einem Publikum vorzuführen. Sie waren eigentlich nur für unsere Freunde. 1978 habe ich Jochen Müller während eines Marokkourlaubes kennengelernt. Er ist nach Bonn gekommen, um sich die Filme anzugucken, von denen ich ihm erzählt hatte. Er war sehr interessiert und wir haben beschlossen, eine deutsche Fernsehsendung zu parodieren. Ab 1982 haben wir unsere Arbeitsweise geändert, wir begannen uns für das Material zu interessieren.
R&C: Das heißt, der Hauptbestandteil des Films?
J.R.: Ja, wir haben mit diversen Schnitttechniken experimentiert, z.B. mit sehr schnellen und rhythmischen Schnitten. Das erste wirklich entscheidende Experiment war "Stadt in Flammen" 1984. Es war der erste Film, der für ein Publikum gemacht war. Wir haben einen alten B-movie aufgetrieben. Ich habe ihn in meinen Garten geworfen, ohne die geringste Ahnung zu haben, was damit passieren könnte. Ich habe ihn 6 Monate später wiedergefunden und sofort beschlossen, ihn weiter zu verarbeiten. Ich traf eine Auswahl dieser durch Bakterien zerfressenen Bilder, um diese zu kopieren.
R&C: Es sind Blasen auf dem Film und er scheint zu brennen.
J.R.: Ja, er scheint zu brennen. Als ich ihn auf meiner Kopiermaschine kopiert habe, habe ich jedes Bild 4 mal vom Original abgefilmt. Der Film war dermaßen überhitzt, daß er anfing zu schmelzen. Vom Original ist nichts übriggeblieben, ich habe es für die Kopie geopfert.
R&C: Wann kamst du darauf, mit chemischen Produkten zu arbeiten?
J.R.: Später. Wir haben erst einige Versuche mit Bakterien durchgeführt. Jochen Lempert studierte Biologie und interessierte sich sehr für natürliche Verfahren wie bakterielle Angriffe auf Farbfilme. Die Ergebnisse beim Film "Aus den Algen" waren ebenso entscheidend. Ich habe dabei das Filmmaterial auf dem Grund meines Gartentümpels versenkt und die Emulsion fing an sich aufzulösen. Nach etwa eineinhalb Jahren gab es keine Spur mehr vom Ausgangsbild. Die Algen begannen sich auf dem Trägermaterial festzusetzen. Das sah bei der Projektion sehr schön aus, es entstanden goldene Farbtöne. 1985 haben wir begonnen, unsere schwarz- weiß und Farbfilme selbst zu entwickeln. Am Anfang erst einmal der Negativprozess, ein sehr einfaches Verfahren. Dann haben wir Versuche mit Farben unternommen, wie z.B. den PH-Wert der Entwickler zu verändern. Der Film "Der General" ist in dieser Zeit durch chemische Veränderungen entstanden. Was z.B. durch Bakterien ein oder zwei Jahre gebraucht hätte, konnte man mit'diversen chemischen Verfahren in zehn Minuten erreichen. Dies wurde zu einer Arbeitsmethode. In "Rumpelstilzchen" habe ich verschiedene Entwicklungsarten entdeckt. Seitdem habe ich mehrmals versucht, dieselben Resultate zu erzielen - aber ohne Erfolg. Ich habe bei jedem Versuch andere Resultate erzielt. Dies ist ein Bestandteil meiner Arbeit: Man kann ein Entwicklungsverfahren für ein Bild oder einen Film herausfinden, ohne daß es möglich wäre, dieses noch einmal zu verwenden.
R&C: Welches sind die Gründe für die Trennung von Schmelzdahin?
J.R.: Von 1978 - 1989 waren alle Filme nur mit "Schmelzdahin" gezeichnet, es war sehr wichtig für uns, eine Gemeinschaftsarbeit zu präsentieren. 1988 bin ich mir darüber klargeworden, daß ich eine andere Richtung einschlagen wollte. Ich wollte die Arbeitsmethode der Gruppe beibehalten, aber die Bilder, die ich verwendete wurden zunehmend persönlicher. Es waren Bilder meiner Familie, meiner Mutter, meines Sohnes und sie waren sehr privat. Deshalb erschien im Vorspann zu "Rumpelstilzchen" zusätzlich mein eigener Name. Die beiden anderen waren damit nicht einverstanden und Schmelzdahin trennte sich. Aber das war für mich nicht sehr problematisch, da ich zu dieser Zeit vorhatte, einen längeren Film zu produzieren.
R&C: Mit Schmelzdahin habt ihr mit Super 8 gearbeitet. Habt ihr dieses Format aus wirtschaftlichen Gründen bevorzugt, oder hatte es andere Vorteile?
J.R.: Hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen, da wir so gut wie gar keine finanzielle Unterstützung erhalten haben, und Super 8 das billigste Format ist. Aber es hatte auch andere Gründe. Als wir unsere ersten Filme gedreht haben, benötigten wir eine handliche, technisch unkomplizierte Kamera. Wir fanden es gut, plötzliche Einfalle sofort zu verfilmen. In den achtziger Jahren hatten viele deutsche Festivals die Möglichkeit, Super 8 zu projezieren.
R&C: Wie seid ihr auf die Idee gekommen, live zu arbeiten?
J.R.: Die erste Super 8 Performance fand 1987 auf dem Bonner Experi Festival statt. Wir haben uns gedacht, es wäre ganz interessant, den Entwicklungsvorgang zu zeigen, statt sich in der Dunkelkammer zu verstecken. Wir hatten vorher nie gesehen, wie sich das Bild während der Entwicklung verändert. Also haben wir uns entschlossen, erstmal nur für uns sichtbar zu machen, was während der chemischen Umwandlung passiert. Dann haben wir uns überlegt, eine Performance über die Veränderung des Bildes zu machen, wobei wir den Projektor verlangsamt haben. Es war auch eine gute Einleitung, um unsere Filme vorzuführen. Während der Performance kann das Publikum alle Handgriffe sehen, die sonst in meiner Werkstatt stattfinden und es kann im selben Moment die Wirkung auf die Bilder beobachten. All meine Arbeit ist natürlich "work in progress", es ist besser sie zu sehen, als über sie zu sprechen.
R&C: Während der Performance bearbeitest du den Film mit diversen Chemikalien.
J.R.: Das entscheidende bei der Performance ist, daß es um Realität geht. Was ist überhaupt Film? Wir haben versucht, herauszufinden, was es ist. Zunächst haben wir "Found Footage" benutzt. Am Anfang der Performance ist es eine Illusion, am Ende kommt man der Realität näher, denn ein Film ist nichts weiter, als einige Moleküle, etwas Kunststoff und etwas Chemie. Es ist nichts Anderes und es ist wichtig, dem Publikum dies zu zeigen.
R&C: Weißt du jedesmal, was mit dem Bild passieren wird., wenn du diese oder jene Substanz aufträgst? Kannst du immer vorhersehen, wie das Bild reagieren wird?
J.R.: Ja, zu zwei Dritteln, der Rest ist Zufall. Ich kann nicht alles kontrollieren, aber das ist kein Problem. Ich habe viele verschiedene Entwicklungen gemacht und weiß, welche Reaktion welche Substanz hervorruft. Aber es ist nicht notwendig alles zu wissen und zu verstehen, was während der Entwicklung passiert, sondern man muß ein Gefühl dafür entwickeln. Ich bin kein Chemiker, der vorführt, daß Wasserstoffperoxid bei jener Temperatur jene Reaktion bei Kontakt mit jenem Film hervorruft...
R&C: Welche Relation möchtest du zwischen der Natur und dem Film herstellen?
J.R.: Als ich anfing für den Film "Passion" zu arbeiten, wollte ich einen Film über die Natur machen, aber es ist unmöglich, über dieses Thema etwas zu machen, außerdem interessiert es mich im Grunde nicht. Ich habe es vorgezogen, natürliche Phänomene in der Emulsion zu erschaffen. Die Dinge, die im Bild erscheinen, sind meine eigenen Vorstellungen vom Lauf der Natur, einer sehr agressiven Natur. Am Anfang von "Passion" erscheinen Bilder eines Vulkanausbruches. Es ist eine Art Stoff Umwandlung. In der Lava verwandelt sich der Stein zu Feuer. Während der Entwicklung wird der Film in ein zersetzendes Bleichbad getaucht, das das entwickelte Negativ in ein Positiv verwandelt. Man kann so ein natürliches Phänomen mit einem kinematografischen Prozess vergleichen: der Vulkanausbruch entspricht dem Erscheinen des Positivs, das aggressive Bleichbad stellt die Lava dar, die die chemische Grundstruktur explodieren läßt und den Basisstoff umwandelt. Also ist es möglich, die Natur in der Emulsion wiederzuerschaffen oder ein Verfahren zu entdecken, das auch in der Natur zu finden ist.
R&C: In "Passion" gibt es auch ein verfilmtes Tagebuch.
J.R.: Ja, das ist meine grundsätzliche Arbeitsmethode. Alle Bilder der Sequenz "Frühling" sind in dieser Zeit entstanden. Es sind auch Ausschnitte aus Dokumentarfilmen und ethnischen Filmen darunter, die ich in dieser Zeit gesammelt habe. Diese verschiedenen Elemente vermischen sich in der Montage. Dabei habe ich oft das Gefühl, unbewußt zu arbeiten.
R&C: Du sprichst von unbewußter Arbeit. Heißt das, daß das Material die Handlung bestimmt?
J.R.: Ja, so ist es. Ich mache das Objekt zum Subjekt. Viele Künstler arbeiten so. Man muß einen Dialog mit dem Material führen.
R&C: Es gibt eine Sache, die in deiner Performance wichtig zu sein scheint: Wir sehen ein Bild und wir wissen, es wird das letzte Mal sein, daß wir es sehen.
J.R.: Ja, es ist eine echte Performance, eine Art Opfer für das Publikum, ein einmaliges Ereignis. Ich habe keine Lust, eine Arbeit zu präsentieren, die ich tausendmal wiederholen könnte. Das ist es auch, was die Atmosphäre während der Performance ausmacht. Die Stille regiert, das Publikum ist aufmerksam, denn die Leute werden sich klar darüber, daß die Bilder, die sie soeben sehen, einem einmaligen Prozess entspringen. Dann ist es vorbei.